Aktuell in der UR
Rechtsprechungsauslese 2023 (Wäger, UR 2024, 357)
Der Beitrag beleuchtet die im Berichtsjahr 2023 veröffentlichte Rechtsprechung des EuGH sowie die des BFH in Revisionssachen. Ausgewertet wurden insgesamt 84 Entscheidungen. Zudem setzt sich der Beitrag in einem einleitenden Teil mit aktuellen Entwicklungen beim EuGH auseinander.
A. Allgemeine Anmerkungen
I. Übertragung der Zuständigkeit für Vorabentscheidungsersuchen
II. Ausgestaltung der Zuständigkeitsübertragung
1. Regelzuständigkeit des EuG
2. Verfahrensfragen
3. Korrekturmöglichkeiten
a) Zuständigkeitskorrektur
b) Inhaltliche Korrektur
4. Zeitpunkt der Zuständigkeitsübertragung
5. Bewertung
B. Rechtsprechung im Einzelnen
I. Steuerbarkeit
1. Diebstahl
2. Kureinrichtungen
3. Scheingeschäfte
4. Gewinnanspruch als Entgelt
5. Leistender Unternehmer bei Personenmehrheiten
a) EuGH-Rechtsprechung
b) BFH-Rechtsprechung
6. Leistungen zwischen Ehegatten
7. Schlachthof
8. Geschäftsveräußerung
II. Unternehmereigenschaft
1. Gremienmitglieder
a) EuGH-Urteil
b) Bewertung
2. Organschaft
a) Steuerschuldnerschaft und finanzielle Eingliederung
b) Innenumsätze
c) Tochterpersonengesellschaften und Folgefragen geänderter Rechtsprechung
d) Wirtschaftliche Eingliederung
e) Zuordnung von Leistungsbezügen und Bauträger
3. Juristische Personen des öffentlichen Rechts
4. Insolvenz
III. Lieferungen
1. Stromlieferung
a) Betanken von E-Autos
b) KWK-Zuschlag
2. Entnahmen
a) EuGH-Vorlage
b) Blockheizkraftwerke
c) Betriebsveranstaltungen
3. Mehr- und Einheit von Leistungen
4. Dienstleistungskommission
5. Gutscheine
a) Alte Rechtslage
b) Neue Rechtslage
IV. Ort der sonstigen Leistung
1. Leistungen im Konzern
2. Veranstaltungen
3. Grundstücksvermittlung
4. Briefkastenfirma
V. Steuerbefreiungen
1. Steuerfreie Beförderungsleistungen
2. Grundstückslieferungen
3. Versicherungsumsätze
4. Heilbehandlungen
5. Vermietung und Verpachtung
6. Leistungen im Sozialbereich
7. Unterricht
8. Innergemeinschaftliche Lieferungen
9. Verzicht auf Steuerbefreiungen und Gutschriften
VI. Bemessungsgrundlagen und Steuer
1. Bemessungsgrundlage
2. Steuersatzermäßigung
a) Erweiterte Anwendung der Anlage 1
b) Werbelebensmittel
c) Kultur
d) Steuerbegünstigte Zweckverfolgung
aa) Verhältnis zum Unionsrecht
bb) Blindenumsätze
e) Beherbergung
3. Steuerentstehung
a) Soll- und Istbesteuerung
b) Überweisungen
4. Haftung
5. Direktanspruch
a) EuGH-Rechtsprechung
b) BFH-Rechtsprechung
VII. Vorsteuerabzug und Vorsteuerberichtigung
1. Umfang des Unternehmens
2. Photovoltaik
3. Holding und Tochtergesellschaft
4. Zuordnung
5. Einfuhrumsatzsteuer
6. Abzugsverbote
7. Vorsteuerberichtigung
VIII. Besteuerung und Sonderregelungen
1. Istbesteuerung
2. Pauschallandwirte
a) Anwendungsbereich der Vorsteuerpauschalierung
b) Beschränkung auf das Inland
c) Verzicht
d) Sportpferde
3. Reiseleistungen
4. Differenzbesteuerung
5. Hinterziehungsbekämpfung
IX. Sonstiges
1. Vertrauensschutz nach § 176 AO
2. Geltung des Unionsrechts
3. Übergangsregelungen
4. Festsetzungsverjährung
5. Strafen
a) Doppelbestrafung
b) Sonstige Strafen
6. Zinsen
C. Schlussbetrachtung
A. Allgemeine Anmerkungen
I. Übertragung der Zuständigkeit für Vorabentscheidungsersuchen
Das Jahr 2024 markiert in der Umsatz(Mehrwert)Steuer einen kleinen Epochenwechsel. Der Unionsgesetzgeber gibt mit der Verordnung zur Änderung des Protokolls Nr. 3 über die Satzung des EuGH vom 11.4.2024 die unionsrechtliche Auslegung dieser Materie in neue Hände und überträgt diese Aufgabe für den Regelfall des Vorabentscheidungsersuchens in Mehrwertsteuersachen und einigen weiteren Materien auf das beim EuGH als Unterinstanz angegliederte EuG.
Im Ausgangspunkt wird für die Zuständigkeitsübertragung eine gewisse Arbeitsüberlastung des EuGH angeführt, wobei zur Wahrheit aber auch gehören dürfte, dass im EuGH nicht zuletzt durch eine Vielzahl von Großverfahren, die in den letzten Jahren zunehmend durch die Große Kammer oder sogar durch das Plenum zu entscheiden waren, der Wunsch entstanden ist, sich zu einer Art Unionsverfassungsgericht weiterzuentwickeln. Dabei blickt man vielleicht auch interessiert auf nationale Verfassungsgerichte, die sich mit den Mühen der Auslegung von Fachmaterien nicht belasten müssen.
Bei der Auswahl der Sachgebiete, bei denen die Auslegungszuständigkeit im Rahmen von Vorabentscheidungsersuchen auf das EuG übergeht, kam es darauf an, dass der EuGH zum einen hinreichend entlastet wird und dass zum anderen dem EuG ein hinreichend großes Aufgabenportfolio im Bereich der Vorabentscheidungsersuchen übertragen wird. Betrachtet man das Zahlenmaterial, das der EuGH bei seinem Änderungsantrag angeführt hat, wird deutlich, dass eine Aufgabenübertragung ohne die dem EuGH – dem Vernehmen nach – wenig Freude machende Materie der Mehrwertsteuer wohl nicht in Betracht kam.
Damit stellt sich die Frage, weshalb es gerade in diesem Bereich zu einer hohen Anzahl von Vorabentscheidungsersuchen in der Vergangenheit gekommen ist. Trotz der unbestreitbaren Verdienste des EuGH bei der Entwicklung des Mehrwertsteuerrechts ist hierzu kritisch anzumerken, dass der EuGH hier auch selbst zum Motor seiner Beschäftigung geworden ist. So erfordert es der Auftrag des Art. 267 AEUV, über die „Auslegung“ des Unionsrechts zu entscheiden, nicht, Vorabentscheidungsersuchen – ähnlich wie im Strafrecht – nach Maßgabe einer größtmöglichen Einzelfallbetrachtung zu beantworten und zu begründen. Dies erscheint bei massenhaft auftretenden Sachverhalten weitgehend verfehlt und führt zwangsläufig zu der Frage, ob – jedenfalls aus der unionsrechtlich maßgeblichen Sicht des EuGH – eine verwandte Fallgestaltung im Hinblick auf ggf. nur geringfügige Unterschiede anders zu beurteilen ist.
Die Probleme einer einzelfallzentrierten Rechtsprechung verstärken sich, wenn sie sich einer nachvollziehbaren Systematisierung entzieht, anstatt sich zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen. Eine Entscheidungspraxis, die sich zudem nicht von früheren Judikaten hinreichend abgrenzt (und auch nicht darüber aufklärt, welchen Urteilen ggf. nunmehr keine Bedeutung mehr zukommen soll) und die den Rechtsanwender dementsprechend bisweilen ratlos zurücklässt, erweist sich als Konjunkturprogramm für das Verfassen und die Beantwortung eigentlich als überflüssig anzusehender Vorabentscheidungsersuchen, bei denen es im Kern nicht mehr um die originäre Auslegung des Unionsrechts, sondern um die Einordnung einer unklar wirkenden EuGH-Rechtsprechung geht. Dass der EuGH in neuerer Zeit mehrfach in Bezug auf ein und dieselbe Rechtssache zweimal angerufen werden musste, damit ein nationales Gericht eine Entscheidung treffen kann, die unionsrechtlich nicht angreifbar ist, ist dabei auch nicht als Ausweis richterlicher Entscheidungsqualität anzusehen. Sollte der zur Begründung der Zuständigkeitsverlagerung vom EuGH angeführte Hinweis, dass es im Bereich der Mehrwertsteuer „einen umfangreichen Grundstock an Rechtsprechung des Gerichtshofs gibt, an dem sich das Gericht bei der Ausübung seiner neuen Zuständigkeit orientieren kann, um die Gefahr von Inkohärenzen oder Divergenzen in der Rechtsprechung zu vermeiden“, dahingehend zu verstehen sein, dass damit bisherige Inkohärenzen oder Divergenzen in Abrede gestellt werden, wäre dem nicht zuzustimmen.
Auch die mit der Zuständigkeitsübertragung verbundene Hoffnung auf Spezialisierung sieht sich zumindest vorerst einer gewissen Belastungsprobe ausgesetzt, berücksichtigt man, dass eine Durchsicht der Lebensläufe der 54 Richterinnen und Richtern des EuG, die der EuGH zum Jahresanfang auf seiner Internetseite veröffentlicht hatte, ergibt, dass zwar viele von ihnen in ihren beruflichen Laufbahnen vor der Berufung zum EuG in den bisherigen Materien des EuG tätig gewesen sind, dass aber nur einer angibt, in der Vergangenheit mit steuerrechtlichen (nicht etwa: mehrwertsteuerrechtlichen) Fragen befasst gewesen zu sein. Bei der Würdigung der nunmehr in Luxemburg angedachten Spezialisierungsbemühungen ist aber auch zu berücksichtigen, dass Deutschland als einer der wenigen Mitgliedstaaten (eventuell sogar als einziger) über eine eigenständige Fachgerichtsbarkeit für Steuern und Zölle verfügt und dass es daher an einer gemeinsamen, auf Spezialisierung im Steuerrecht ausgerichteten Rechtstradition der Mitgliedstaaten fehlt.
Für nationale Gerichte könnte sich damit die Frage stellen, Vorlagen noch vor dem Stichtag der Zuständigkeitsübertragung7 an den EuGH, der sich (...)